19.05.20 - 30.06.20

Fotografie als Familientherapie – ein Projekt von Thomas Struth

Katja Zakharova M.A.

19.05.20 - 30.06.20

Autorin: Katja Zakharova (familie&kunstfreunde + job&kunstfreunde)

Thomas Struth gehört neben Thomas Ruff und Andreas Gursky zu den bedeutendsten deutschen Fotokünstlern der Gegenwart. Seine Werke sind in den wichtigsten Sammlungen weltweit zu sehen, so auch im Museum Ludwig in Köln. Struth studierte an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf anfangs Malerei, bevor er sich der Fotografie zuwandte. Als Schüler von Bernd und Hilla Becher fotografierte er mit seiner Großformatkamera zunächst menschenleere Straßen. Später erweiterte er sein Repertoire um Farbfotos und es entstanden Bildserien wie die Urwaldaufnahmen, Fotografien von Forschungsanlagen oder die Museumsbilder. Letztere zeigen Besucher beim Betrachten der Kunstwerke in den berühmten Museen und brachten Struth einen hohen Bekanntheitsgrad ein.

Heute möchte ich Euch eines meiner Lieblingskunstwerke von Thomas Struth vorstellen, das zu seinem Projekt Familienleben gehört. Seit den 1980er Jahren verfolgt Struth diese Serie als ein fortlaufendes und immer wieder relevantes Projekt. Den Ausgangspunkt für die Serie bildet eine eigene Studie mit privaten Familienbildern. Zusammen mit einem befreundeten Psychoanalytiker untersuchte Struth anhand der eigenen Familienfotos seine Kindheit. Auf vielen Bildern war mit verblüffender Klarheit zu erkennen, welche Beziehung die Menschen zueinander haben. Die Direktheit der Fotos war für Struth sehr beeindruckend und inspirierte ihn zu seinem Projekt Familienleben.

Im Laufe der Zeit ist eine beachtliche Sammlung von Familienbildnissen aus aller Welt zusammengekommen. Die Fotografien zeigen Paare, Familien oder Blutsverwandte in ihrem alltäglichen Umfeld. Die Positionierung überlässt Struth den Porträtierten selbst, die dann intuitiv einen für sie passenden Ort einnehmen. Allen Porträtierten ist gemein, dass sie mit dem Fotografen beruflich bekannt oder gar privat befreundet sind. Daher überrascht es auch kaum, dass es sich meist um Vertreter aus dem Kunst- und Kulturbereich handelt. So auch bei der Fotografie mit dem Titel „Die Familie Schäfer, Meerbusch 1990“.

Dargestellt ist die vierköpfige Familie des ehemaligen Düsseldorfer Kunstvereins-Vorsitzenden Gerd Schäfer. Die großformatige Fotografie (166 x 198 cm) zeigt uns vier Personen aus zwei Generationen, die nur über den Titel und eine gewisse physiognomische Ähnlichkeiten als Familie ausgewiesen werden. Die Familie wirkt auf dem Bild nicht wie eine Einheit. Alle vier erscheinen als eigenständige Persönlichkeiten ohne sichtbare Beziehung zueinander. Weder Berührungen noch Blicke verbinden die vier miteinander. Sie stehen oder sitzen nebeneinander und halten einen gewissen Abstand. Man könnte fast meinen, die Familie Schäfer befindet sich in einer Corona bedingten Quarantäne. Eine besondere Aufmerksamkeit zieht die Figur der Ehefrau auf sich. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet und steht wie eine strenge Schicksalsgöttin mitten im Raum. Ihr Mann dagegen tritt weniger dominant in Erscheinung. Aufgrund der ähnlichen Farbigkeit verschmilzt sein Jackett mit dem Bild, vor dem er steht. Es ist vermutlich kein Zufall, dass er sich als damaliger Vorsitzender des Düsseldorfer Kunstvereins für die Aufnahme vor einem Kunstwerk positionierte.

Insgesamt sind die Farben zurückhaltend und wirken eher trist. Als einziger Farbkontrast sticht der orangefarbene Pullover des stehenden Sohnes ins Auge. Mit den vor der Brust verschränkten Armen hat er eine rebellische oder abwehrende Haltung eingenommen. Sein sitzender Bruder scheint dagegen eine eher privilegierte Rolle zu genießen. Ihm wird im Bildraum durch den großen Sessel am deutlichsten eine eigene Sphäre zugesprochen. Das Porträt zeigt die Vereinzelung der Mitglieder. Kein Bild, Teppich oder Möbelstück verbindet sie miteinander oder strahlt häusliche Wärme und Geborgenheit aus. Auffällig ist auch die Tatsache, dass kein Familienmitglied lächelt oder nur ansatzweise Emotionen zu zeigen scheint. Vielleicht ist dieser Umstand der Technik geschuldet. Da die Belichtungszeit der Plattenkamera mit der Struth seine Aufnahmen macht, extrem lang ist, sind die Porträtierten angewiesen, für einige Augenblicke konzentriert innezuhalten. Hierdurch fällt das Lächeln den meisten wahrscheinlich schwer und würde auf den Bildern ohnehin verkrampft wirken.

Als ich das Foto der Familie Schäfer vor Jahren während meines Studiums in einem Band über zeitgenössische Fotografie sah, hinterließ es auf mich einen bleibenden Eindruck. Ich dachte mir nur: „Wenn ich eines Tages eine eigene Familie haben werde, möchte ich auf keinem Fall so aussehen!“. Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen und ich habe eine eigene Familie – unsere Familienbilder sehen natürlich anders aus. Sie werden schließlich nicht von Thomas Struth geschossen. Es gibt aber bestimmte Merkmale, vor allem die Positionierung der jeweiligen Familienmitglieder, die fast immer gleich sind und dadurch einiges über die Beziehung der Einzelnen untereinander verraten.

Thomas Struth trifft mit seinem Projekt Familienleben ein aktuelles Thema, das jeden in der einen oder anderen Weise betrifft. Erlebnisse mit der eigenen oder mit nahestehenden Familien, Wunschvorstellungen von ihr, Beziehungs- oder Erziehungsfragen führen letzten Endes immer auch zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität.

Struths Fotografien wirken dabei sehr stimulierend und können als eine Anleitung zur Reflexion auch über die eigene Familie verstanden werden. Vielleicht habt Ihr jetzt Lust, Euch ein paar alte Familienalben genauer anzuschauen…

Bildangabe:
Thomas Struth: The Schäfer Family, Meerbusch 1990, Chromogenic Print, C-Print, 166 x 198 cm, gerahmt, Museum Ludwig (ML/F 2012/0014, Köln), (Foto: © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d038112); © Thomas Struth; Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Struth!