Ukrainische Moderne auf der Frankfurter Buchmesse
The fragility of creators – „Unser Leben heute ist so zerbrechlich wie Glas“
Auf die Frage, warum sie Glas als Material gewählt habe, gab die junge Künstlerin Daria Koltsova, die in Köln zur Ausstellung „Ukrainische Moderne 1900-1930 & Daria Koltsova“ eine monumentale Glas-Installation geschaffen hatte, diese Antwort: „Weil unser Leben heute so zerbrechlich ist wie Glas.“ Zerbrechlichkeit als beherrschendes Lebensgefühl im Krieg – dies spiegelte sich im Oktober auch auf der Frankfurter Buchmesse wider. Der Gemeinschaftsstand der Ukraine stand unter dem Motto: „The fragility of creators“. Doch der unbedingte Wille, Zerbrechlichkeit und Zerstörung mit den Mitteln von Literatur, Kunst und Kultur kreativen Widerstand entgegenzusetzen, war überall zu spüren:
So auch bei der 32-jährigen Anna Karnauh. Sie arbeitet in Kiew als Chefredakteurin und Autorin bei „Projector Publishing“, einem Ausbildungsinstitut für Grafikdesign, bildende Kunst und Animation. Auf der Messe präsentiert sie einen gerade noch rechtzeitig fertiggestellten Bild- und Textband mit dem Titel „Volja“: Freiheit, Wille. Sie hofft darauf, dass sie das Buch in Deutschland übersetzen und publizieren lassen kann. Sie seien ein sehr kreatives Team in ihrem Institut, erzählt sie. Sie hätten sich entschieden, eine Ausgabe speziell diesem Wort mit seiner doppelten Bedeutung (Freiheit und Wille) zu widmen. Warum, steht im Vorwort: Angesichts des Krieges könnten sie Lehre und Ausbildung nicht mehr so fortsetzen wie bisher und ihren Studierenden auch nicht mehr dieselben Design-Aufgaben wie vor dem Krieg stellen. „Wir wissen viel über dänisches und deutsches Design, haben aber vergessen, über unseres zu erzählen.“ Im Design, in der Kunst, im Alltagsleben ginge es jetzt darum, eine originär ukrainische Ästhetik zu schaffen, ukrainische Antworten zu geben. Sie wollen kämpfen: „Wir haben Künstler und Designer gebeten, sich diesem Thema visuell zu nähern und uns dafür ihre Kunst zur Verfügung zu stellen.“
Beim Durchblättern des Buches fallen als erstes die aufwändig gestalteten Trennblätter zwischen den Beiträgen auf: Es sind feste Seiten in leuchtenden Farben, aus denen unterschiedlichste Muster herausgeschnitten wurden. Dieses Design, so Karnauh, sei eine Referenz an die verstorbene Künstlerin Paraska Kvitka-Gorytsvit, die die traditionelle ukrainische Kunst des Ausschneidens, genannt „Vytynanka“, insbesondere mit floralen Motiven, gepflegt habe. Die demonstrative Ausübung und Bewahrung von traditionell-ukrainischer Kunst als identitätsstiftende Waffe: „Diese Einzigartigkeit kann uns helfen, den Krieg zu gewinnen“, sagt Karnauh.
Die Beiträge im Buch sind radikal, intellektuell, aber auch sarkastisch.
So wie die des Künstlers Maksim Palenko: Das in der ganzen Ukraine bekannte blümchengeschmückte Design des Kartondeckels für die als Mitbringsel begehrte „Kiewer Torte“ verändert er textlich in den Gruß: „Kiewer Luftabwehr“. Die Fechterin Olga Charlan, die 2023 auf der WM in Mailand disqualifiziert wurde, weil sie ihrer besiegten russischen Gegnerin statt der Hand das Florett entgegenstreckte, verewigt er hoch zu Ross als entschlossene Heldin, die, im Stil eines siegreichen Heiligen Georg, im Begriff ist, einem sich windenden roten Drachen zu ihren Füßen den Todesstoß zu versetzen.
Das persönliche Lieblingsbild von Anna Karnauh ist eine Großmutter mit weißer Katze auf dem Schoß, die in einem schön ausgestatteten Zimmer auf dem Sofa sitzt: „Es ist so warm und voller Leben, alles ist fröhlich, alles ist an seinem Platz. Es ist ein glücklicher Ort, jeder Ukrainer braucht jetzt so einen Platz.“
Aber aktuell, das ist auf der Frankfurter Buchmesse deutlich spürbar, ist unter den ukrainischen Kunst- und Kulturschaffenden die historische Erinnerung an die von Stalin 1937 „hingerichtete Renaissance“ in der Ukraine allgegenwärtig. 2023 nehmen sie den Krieg als existenzielle Bedrohung für sich selbst und für die nationale Kultur wahr.
Die Bestände der Museen in der Ukraine seien in Teilen an sichere, geheime Orte evakuiert worden. Näheres könne man dazu nicht sagen, erklärt Nataliia Drapak, Projektmanagerin beim „Mystetskyi Arsenal“. Das „Kunst-Arsenal“ in Kiew ist seit 2005 ein nationaler Kultur-, Kunst- und Museumskomplex mit einer Ausstellungsfläche von 60.000 Quadratmetern. Auf dem Messestand ist zu lesen: Heute sind die Museumsräume leer, und jetzt, im Krieg, sei als eine der wenigen noch möglichen Kommunikationsformen die zeitgenössische Kunst geblieben. Denn sie dokumentiere und reflektiere die Gegenwart unmittelbar.
Vor allem Skulpturen und Mosaiken, also Kunst im öffentlichen Raum, seien derzeit am unmittelbarsten von Zerstörung bedroht. So wie das monumentale Wandmosaik der 1970 verstorbenen Künstlerin Alla Horska. Das Ukrainische Institut mit Sitz in Berlin hat die besondere Geschichte ihres Mosaiks „Kestrel“ mit dem kühn fliegenden Falken dokumentiert: Ende der 60er Jahre galt Alla Horska den russischen Sowjet-Autoritäten als ukrainisch-bourgeoise Nationalistin. Ihre Kunst war missliebig. Das Mosaik blieb jedoch, versteckt hinter einer falschen Ziegelwand, in einem Restaurant in Mariupol erhalten. 2008 wurde es bei einer Sanierung wiederentdeckt. Im Sommer 2022 wurde es durch Raketenbeschuss endgültig zerstört. Vitalina Buran vom Ukrainischen Institut sagt: „Die Ukraine ist oft noch terra incognita.“ Deshalb arbeitet sie in der europäischen Öffentlichkeit an Dokumentation und für Erinnerung: Im August in Köln und kürzlich in Wien am Museum Leopold wurde der kühn fliegende Falke als Lichtinstallation wieder zum Leben erweckt.
Text: Irmgard Schenk-Zittlau
Bildnachweise: Irmgard Schenk-Zittlau
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© Irmgard Schenk-Zittlau, Stand Ukraine auf der Frankfurter Buchmesse 2023